Kontrollierte Selbstorganisation
Forscher unter der Leitung von Metin Sitti am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart haben ein Materialsystem konstruiert, welches zur „dynamischen Selbstassemblierung“ fähig ist.
- 01 June 2017
- Physische Intelligenz
Zu leben bedeutet im biologischen Sinne, atmen, essen, trinken, wachsen, altern und vielleicht auch, sich bewegen zu können. Die Ernährung stellt die Energiequelle dar und der Stoffwechsel wandelt die gespeicherte chemische Energie in biochemische Energie um, um Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten. Die physikalische Abstraktion dieser Energietransduktion durch lebende Organismen ist extrem einfach: Sie umfasst Energiezufuhr sowie Energiedissipation. Diese mechanistische Ansicht zum Leben wirkt fast trivial, doch die Anwendung dieser Denkweise beim Design von Materialien und Materialsystemen ist es ganz und gar nicht. Forscher unter der Leitung von Metin Sitti am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart haben kürzlich ein Materialsystem konstruiert, welches ständige Zufuhr magnetischer Energie sowie viskose Dissipation erfordert, um seine raum-zeitlichen Muster aufrechtzuerhalten. Der Begriff, der üblicherweise in der Wissenschaftsgemeinde dazu verwendet wird, diese Art von Materialsystem zu beschreiben, lautet „dynamische Selbstassemblierung“.
Die andere Hälfte der Arbeit der Forscher umfasst die programmierbare Selbstassemblierung. Die Ähnlichkeit zu lebenden Organismen ist subtiler, aber nicht weniger bedeutsam. Sie umfasst den Transfer von Informationen oder den Ordnungsgrad-Transfer. Die Ähnlichkeit gestaltet sich folgendermaßen: Die Energiequellen in der Ernährung sind üblicherweise Moleküle mit hohem Molekulargewicht wie etwa Proteine und langkettige Kohlenhydrate. Diese besitzen einen hohen Ordnungsgrad, während die chemischen Stoffe in biologischen Abfällen normalerweise ein niedriges Molekulargewicht und damit einen niedrigen Ordnungsgrad haben. Dieser Wechsel von hohem zu niedrigem Ordnungsgrad im Futter bzw. Abfällen führt zu einem Anstieg der Ordnung im lebenden Organismus. Dieser Anstieg der Ordnung oder die Verringerung der Unordnung wird in der Fachsprache als Entropie-Reduktion bezeichnet. Die Entropie kann als Maß für die Ordnung (Unordnung) sowie als Maß für die Information betrachtet werden. In diesem System erfolgt der Transfer von Information von einzelnen Komponenten zum kollektiven Ganzen – daher wird der Begriff programmierbare Selbstassemblierung verwendet.
„Unsere Arbeit baut insbesondere auf der Pionierarbeit der Gruppe von Whitesides zum Rotieren von millimetergroßen Scheiben an der Luft-Wasser-Grenzfläche auf. Der wichtigste Unterschied liegt dabei bei den Abmessungen der rotierenden Objekte. Unsere Micro-Rafts sind
100 Mikrometer breit“, sagt Wendong Wang vom Max-Planck-Institut für intelligente Systeme, Erstautor der neuen Publikation in Science Advances. Diese Größenreduktion erfordert eine neue Wahl der Interaktion, bei welcher es sich um die wichtigste technische Innovation handelt: die Auswahl einer Interaktion mit Kapillarwirkung, welche sowohl die dynamische als auch die programmierbare Selbstassemblierung in einem einzigen System ermöglicht. Die Forscher weisen durch Experimente und Simulationen nach, dass parametrisch definierte Micro-Rafts durch ein Gleichgewicht zwischen magnetischer Anziehungskraft und kapillarischer Abstoßung eine dynamische Selbstassemblierung durchlaufen und faszinierende raum-zeitliche Muster bilden, welche durch analytische Modellierung und geometrische Analyse nachvollzogen werden können. Zudem haben sie gezeigt, dass diese parametrisch definierten Micro-Rafts bei Einbettung in eine vierfache Rotationssymmetrie in der Lage sind, eine Tendenz zur Bildung von hexagonal gebündelten Anhäufungen zu überwinden und Anordnungen zu bilden, die hauptsächlich 90-Grad-Winkel aufweisen. Daher sind sie ebenfalls programmierbar.
„Unser Ziel ist es, Mikroroboter durch den Ansatz der Selbstassemblierung herzustellen und zu steuern“, sagt Wang. Die zukünftige Arbeit umfasst zwei Richtungen. Erstens – aus der Perspektive der Grundlagenforschung: Die Forscher werden weiterhin den Parameterraum des Micro-Raft-Designs untersuchen und die Energie- und Entropie-Transformation in deren System durch mathematische Modellierung und Experimente erforschen und weitere Kenntnisse darüber erlangen. Aus diesen Daten werden sie eine Reihe von allgemeinen Regeln ableiten, welche hoffentlich auf größere Forschungsbereiche wie etwa künstliche Intelligenz und den Ursprung des Lebens angewendet werden können. Zweitens – vom technologischen Standpunkt aus: Die Forscher werden die Fähigkeit entwickeln, durch diese programmierbare Plattform zur Selbstassemblierung Mikroroboter zu erstellen. Zudem werden sie die technische Steuerung und Rückmeldung (den sogenannten Top-Down-Ansatz) mit dem Bottom-Up-Ansatz zur Selbstassemblierung kombinieren, um Mikroroboterschwärme für Anwendungen in den Bereichen Technik und Biomedizin zu steuern und zu kontrollieren.